Zerstörte Häuser, beschädigte Hafenanlagen und tausende Opfer – am 22. Mai 1766 lösten ein Erdbeben mit einer Magnitude von ungefähr 7,5 und eine darauffolgende Flutwelle in Istanbul eine Katastrophe aus. Die Gefahr, dass sich so etwas wiederholt, ist real, belegen Forschungsergebnisse.
Der Ursprung des Bebens im Jahr 1766 wird heute entlang der Nordanatolischen Störung im Marmarameer verortet. Es war bislang das letzte schwere Erdbeben, das die Metropole am Bosporus getroffen hat. Istanbul mit seinen mehr als 15 Mio. Einwohnern liegt genau an der Nordanatolischen Störung, einer Grenze zwischen zwei Erdplatten. Hier kommt es immer wieder zu verheerenden Erdbeben.
Ausgerechnet der Abschnitt vor Istanbul konnte bisher nur indirekt beobachtet werden, weil er im Marmarameer unter Wasser liegt. Mit Hilfe des neuartigen Messsystems GeoSEA haben Forscherinnen und Forscher des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus Frankreich und der Türkei jetzt erstmals einen erheblichen tektonischen Spannungsaufbau unterhalb des Marmarameers nachgewiesen. Die Studie ist in der internationalen Fachzeitschrift Nature Communications erschienen.
Über die Größe der Spannung sagt der Geophysiker Dr. Dietrich Lange vom GEOMAR: „Sie würde reichen, um erneut ein Beben der Stärke 7,1 bis 7,4 auszulösen.“ Lange ist der Erstautor der Studie.
Die Nordanatolische Störungszone markiert die Grenze zwischen der eurasischen und der anatolische Erdplatte. Beide schieben sich sehr langsam aneinander vorbei. „Zu starken Erdbeben kommt es, wenn sich die Störungszone verhakt. Dann bauen sich tektonische Spannungen auf, die sich irgendwann in einem Moment entladen“, erklärt Dr. Lange. Zuletzt geschah dies 1999 an einem Abschnitt der Nordanatolischen Störung bei Izmit, etwa 90 Kilometer östlich von Istanbul. Damals kam es zu einem Versatz der Störung um zwei bis vier Meter.
Ob sich die Plattengrenzen dort bewegen oder verhaken, konnte bisher nur indirekt, zum Beispiel mit Beobachtungen von Land, extrapoliert werden. Die Methoden konnten allerdings nicht zwischen einer Kriechbewegung oder der kompletten Verhakung der Erdplatten unterscheiden. Das am GEOMAR entwickelte, neuartige GeoSEA-Systems zur akustischen Abstandsmessung am Meeresboden ermöglichte jetzt erstmals eine direkte Messung der Plattenbewegung im Marmarameer. Über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren standen insgesamt zehn Messgeräte in 800 Metern Wassertiefe beiderseits der Störung. Sie führten in dieser Zeit mehr als 650.000 Abstandmessungen durch.
„Damit diese Messungen über mehrere hundert Meter auf wenige Millimeter genau sind, benötigt man auch sehr genaue Kenntnisse über die Schallgeschwindigkeit unter Wasser. Deswegen müssen auch Druck- und Temperaturschwankungen des Wassers sehr präzise über den gesamten Zeitraum gemessen werden“, erklärt Prof. Dr. Heidrun Kopp, GeoSEA-Projektleiterin und Co-Autorin der aktuellen Studie.
„Wenn sich die angestaute Spannung während eines Erdbebens löst, würde sich die Verwerfungszone auf einen Schlag um mehr als vier Meter bewegen. Dies entspricht einem Erdbeben mit einer Magnitude zwischen 7,1 und 7,4“, ergänzt Professorin Kopp. Ein solches Ereignis hätte für das nahegelegene Istanbul sehr wahrscheinlich ähnlich weitreichende Folgen wie das Erdbeben 1999 für Izmit mit über 17.000 Opfern.
Link zum Bericht:
https://doi.org/10.1038/s41467-019-11016-z
Autor: Martin Muth
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